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Titel
Vergleichende Mediengeschichte. Am Beispiel deutscher und japanischer Literatur vom späten 18. bis zum späten 20. Jahrhundert


Autor(en)
Nawata, Yuji
Erschienen
Paderborn 2012: Wilhelm Fink Verlag
Anzahl Seiten
277 S.
Preis
€ 34,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Shiro Yukawa, Institut für Orient- und Asienwissenschaften / Abteilung für Japanologie und Koreanistik, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn

„Vergleichende Mediengeschichte“ ist keineswegs ein schon etablierter Teilbereich der geschichtsinteressierten Medienwissenschaften oder der medieninteressierten Geschichtswissenschaft. Nach wie vor ist sie mehr ein Programm, das von den verschiedenen Disziplinen mit durchaus viel Gewinn betrieben wird. Einen neuen Anstoß auf diesem noch nicht völlig erschlossenen Terrain gibt Yûji Nawata. Die nun veröffentlichte Habilitationsschrift des Germanisten, Literatur- und Kulturwissenschaftlers, eingereicht an der Humboldt-Universität zu Berlin im Jahr 2007, stellt einen neuen Themenbereich der vergleichenden Mediengeschichte „am Beispiel deutscher und japanischer Literatur vom späten 18. bis zum späten 20. Jahrhundert“ vor. Bei der Lektüre dieser kompakten Arbeit kommt der Leser nicht umhin, sich die Möglichkeiten und Schwierigkeiten vergleichender Historiografie vor Augen zu führen.

Inspiriert von Harold A. Innis1, sieht Nawata „die Aufgabe der Medienwissenschaft“ darin, „die Mediengeschichten verschiedener Kulturen vergleichend darzustellen“ (S. 14). Dabei stützt er sich theoretisch hauptsächlich auf die Medientheorie und -geschichte Friedrich A. Kittlers, dessen Methode an die Diskursanalyse Michael Foucaults anschließt. Obwohl und gerade weil sowohl Foucault als auch Kittler ihre Arbeitsfelder allein in Europa verorteten, erweitert Nawata diesen Ansatz zu einem Vergleich sprachlich entfernter Kulturen. Er entscheidet sich dafür, dass „die Diskussion nicht auf die Basis der sprachlich-diskursiven Ebene (zum Beispiel Schlüsselbegriffe) gestellt wird, sondern auf eine sachliche Ebene, zum Beispiel der Medien als Dinge“ (S. 24). Dies ist als effektive methodische Strategie zu verstehen, um der kulturvergleichenden Untersuchung eine mehr oder weniger kulturneutrale Vergleichsskala zu verleihen.

In Anlehnung an Kittlers „Aufschreibesysteme 1800 – 1900“2 schränkt Nawata das Bezugsystem seiner vergleichenden Studie auf vier Zeiträume mit jeweils einem repräsentativen Medium ein: das um 1800 entstandene Mediensystem der deutschsprachigen Gebiete mit den beweglichen Lettern und jenes in Japan mit dem Holzschnitt; sowie das um 1900 im deutschsprachigen Raum entstandene Mediensystem mit der Schreibmaschine und das in Japan mit der Typografie. Entsprechend den Zäsuren von 1800 bzw. 1900 ist seine Studie in zwei Teile gegliedert.

Im zweiten Kapitel untersucht Nawata das „deutsche und japanische Mediensystem 1800“ bezüglich der folgenden drei Vergleichsthemen: Die Codestruktur des literarischen Erzählens im Abschnitt „2.1. Bild per Bild/Bild per Schrift: Bildlichkeit in der Literatur“ (S. 35–54); die „naturwissenschaftliche[n] Blicke“ (2.2., S. 54–80) mit dem Beispiel der Adaption der europäischen naturwissenschaftlichen Illustration mit Kupferstich in der xylographischen Unterhaltungsliteratur Japans; sowie das kulturspezifische Verständnis über das Verhältnis zwischen den Zeichen „Bild, Schrift und Zahl“ (2.3., S. 80–100) im Spiegel von Jean Pauls „Dr. Katzenbergs Badereise“ einerseits und dem handgeschriebenen und -gezeichneten Reisetagebuch des Mathematikers Kazu Yamaguchi andererseits. Durch seine ausgewählten Fallbeispiele kontrastiert Nawata die durch Prägung der Typografie sowohl medial als auch semiotisch funktional differenzierte europäische „Gutenberg-Galaxis“ mit der japanischen „Holzplatte-Galaxis“, die solche funktionale Differenzierung der medialen Praxis (noch) nicht kennt. Um 1800 bestand Unterhaltungsliteratur in Japan hauptsächlich aus groben xylographischen Bildern oder aus Gedichten, Skizzen und Rechnungsformeln, die individuell in Handarbeit zusammengefügt wurden. Das japanische Mediensystem zeichnete sich demnach durch seine Ganzheitlichkeit bzw. Rückständigkeit aus; eine Diagnose, die allerdings erst durch den Vergleich mit dem Europäischen möglich wird (siehe dazu unten).

Ausgehend von diesen Ergebnissen kommt Nawata im folgenden Kapitel „Deutsches und japanisches Mediensystem 1900“ auf die Veränderungen zu sprechen, die beide Mediensysteme durch moderne Medien erfahren haben. Ausgangspunkt ist dabei die Annahme, dass sinnliche Informationen durch die neuen Medien in einem bis dahin unbekannten Maße direkt vermittelbar und erfahrbar geworden sind und diese neuen Medien damit auch den Umgang mit der Schrift und der Literatur verändert haben. Das Schriftbewusstsein für die Literatur habe sich von einer „Signifikatenlogik“ zu einer „Signifikantenlogik“ verändert und somit „ein neues Paradigma der Literatur“ gestiftet (S. 103). Diese These illustriert Nawata zuerst durch Gegenüberstellung von Norbert von Hellingrath, Neuentdecker der Pindar-Übersetzung Friedrich Hölderlins, und Jun Ishikawa, der mit dem neuen Schreibwerkzeug „pen“ (anstatt Haarpinsel) sein Manuskript für den beweglichen Letterndruck geschrieben hat („3.1. Theorien der Signifikantenlogik“, S. 104–137). Nach einem kurzen Seitenblick auf „Technisch-optische und -akustische Medien“ (3.2., S. 137–154) wendet sich Nawata nun der neuen poetischen Praxis im modernen medialen Kontext zu. Hierzu greift er die Turngedichte Joachim Ringelnatz’ und deren Rezeption durch Shirô Murano als Beispiel für neue multimediale Darstellungen der Literatur und ihre Neuentdeckung des Körpers vor dem Hintergrund der (Radio-)Gymnastik heraus („3.3. Die moderne Disziplinierung des Körpers“, S. 154–181). Die neue mediale Erfahrung mit Telegramm, Zug und Flugzeug forme nun eine „Poesie im Zeitalter technischer Medien“ (3.4., S. 181–220), die Nawata in der literarischen und wissenschaftlichen Praxis Mokichi Saitôs und im visuellen Gedicht Ernst Jandls entdeckt. Diese mediale Umwälzung der Literatur finde ihren Höhepunkt in der „konkrete[n] Poesie“ (3.5., S. 220–243), welche die beiden Mediensysteme durch die unterschiedlichen Medien – im deutschsprachigen Raum durch die Schreibmaschine und durch ihr „japanische[s] Äquivalent […] [von] bewegliche[n] Lettern“ (S. 221) – für sich entdeckten. Die japanische und die deutsche konkrete Poesie als „eine Kunst in mechanischer Schrift“ unterscheiden sich laut Nawata aufgrund des kulturspezifischen „Grundcharakters der Schrift“ und damit ihrer verschiedenen Mediengeschichte (S. 240). Gemeinsam haben sie allerdings, dass sie „niemals die Materialität der Schriftzeichen vergessen machen“ (S. 242).

Die Ausführungen Nawatas sind mit zahlreichen Beispielen angefüllt, welche – besonders in Bezug auf das Japanische – bisher im deutschsprachigen und euro-amerikanischen Wissenschaftsbetrieb kaum erforscht worden sind und daher den Wissenshorizont der Leser erweitern werden. Schwer erwehren kann man sich allerdings des Eindrucks, dass diese Beispiele oft sehr sprunghaft und geradezu akrobatisch je nach Thematik aneinandergereiht sind. Das wird denjenigen überfordern, der seine Lektüre nach dem chronologischen und kausalen Prinzip der Geschichtsschreibung organisiert haben möchte. Er wird von der Grundeinstellung Nawatas, „keine detaillierte chronologische Geschichtsschreibung“ zu beabsichtigen (S. 23), irritiert sein. Hier sei besonders das gewagte Beispiel eines Nebeneinanders von Hellingrath und John Cage genannt (S. 121f.). Die Zusammenstellung der genannten Beispiele wirkt beliebig, sodass der Vergleich letztlich nicht mehr überzeugend und historisch-logisch, sondern nur noch individual-assoziativ oder analog gezogen werden kann.

Nawata schreibt keine vergleichende Mediengeschichte im wörtlichen Sinne, sondern „eine Mediengeschichte der Literatur“, eine komparative Literaturgeschichte, die „Medien […] als Vergleichsebene“ für die Analyse historischer Fallbeispiele nutzt (S. 23). Diese Perspektivierung hat in Verbindung mit seinem methodischen Ansatz Konsequenzen für seine Betrachtung der Materialität des Mediums, die leider auf die Oberfläche der Medien, das Aussehen der Bilder und Schriften beschränkt bleibt. Hätte er stattdessen beispielsweise die Materialität des japanischen Mediensystems und seine Geschichte betrachtet, würde er nicht von einer „Holzplatten-Galaxis“ sprechen. Anders als bewegliche Letter ist die Holzplatte wie das weiße Blatt Papier semiotisch universell in dem Sinne, dass sie sowohl Schrift als auch Bild speichern und vervielfältigen kann. Sie ist vielmehr Effektor von dem, was als Vorlage vorhanden ist. Wenn man sich diesen materiellen Sachverhalt der intermedialen Datenübertragung vor Augen hält, spricht man stattdessen besser von der „Pinsel-Galaxis“, denn es ist die mediale Konstellation aus Pinsel, Papier und Tusche, die das japanische bzw. gesamte ostasiatische Schrift- und Bildbewusstsein medienhistorisch grundlegend geprägt hat und immer noch prägt. Die hölzerne Druckplatte hatte diese Medienkonstellation nicht unterbrochen, sondern eher noch gestärkt.

Die Epochenbezeichnung „Holzplatten-Galaxis“ ist nicht nur angelehnt, sondern angepasst an das europäische Muster der Mediengeschichtsschreibung, die das Druckmedium, den beweglichen Letterndruck, als ihren Bezug, wenn nicht gar Höhepunkt hat.3 Als Gegenbeispiel, das heißt Ausdruck von Abwesenheit der Typografie, musste ein Druckmedium, hierbei der Holzschnitt, hervorgehoben werden, damit eine fremde Mediengeschichte auch in der nach dem europäischen Entwicklungsmuster geformten Historiografie verständlicher wird. Deutlich wird dieses hier leider unreflektierte Muster anhand des Fazits des Autors: „Die Gutenberg-Galaxis konnte sich aus sich selbst heraus weiter entwickeln und ihre Stellung unterminimieren, während die Holzplatten-Galaxis von außen zerstört wurde. Und dies alles ist ein Teil der Weltgeschichte als Kämpfe der Mächte. Dass das japanische Mediensystem 1800 vom Westen her aufgelöst wurde, geschah im Zug der Expansion westlicher Staatsmächte. Das dadurch entstandene japanische Mediensystem 1900 konnte der neu entstandenen imperialistischen Macht Japan dienen.“ (S. 243) Diese Modernisierungsthese und damit die Sicht auf Geschichte als Entwicklung im Sinne von und nach dem europäischen Muster ist nicht neu und es muss reflektiert werden, ob und inwieweit sie heute noch zur Skala der kulturvergleichenden Studie eingesetzt werden kann.

Trotz dieses Mangels an historiografisch-methodischer Reflexion ist das Werk Nawatas als eine Pionierleistung zu verstehen, welches dem Leser mit reichlich Stoff eine Momentaufnahme der Möglichkeiten und Grenzen des im Titel versprochenen Programms einer „vergleichende[n] Mediengeschichte“ der deutschen und der japanischen Literatur vermittelt.

Anmerkungen:
1 Harold A. Innis, Empire and Communications, hrsg. von David Godfrey, Victoria 1986 (1. Aufl. 1950).
2 Friedrich A. Kittler, Aufschreibesysteme 1800 – 1900, 4. vollst. überarb. Aufl., München 2003 (1. Aufl. 1985)
3 Sven Grampp, Ins Universum technischer Reproduzierbarkeit. Der Buchdruck als historiographische Referenzfigur in der Medientheorie, Konstanz 2009.

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